15.03.06
Von Jens Herrmann, Genua
Quelle: http://www.nd-online.de/funkprint.asp?AID=87270&IDC=2&DB=
In der Nacht zum 22. Juli 2001 stürmte die italienische Polizei die Diaz-Schule in Genua. In dem Gebäude hielten sich Aktivisten auf, die an den Protestaktionen gegen den G8-Gipfel in der Stadt teilnahmen. Bei dem brutalen Überfall wurden über 60 Menschen verletzt. Im derzeit laufenden Verfahren gegen beteiligte Polizisten sagen auch Zeugen aus Deutschland aus.
»In diesem Moment war es offensichtlich, dass wir keinesfalls mit einer rechtsstaatlichen Behandlung durch die Polizei zu rechnen hatten«, erwidert Miriam H. aufgebracht, als der Staatsanwalt nachfragt, warum es klar gewesen sei, dass sie vor den herannahenden Polizisten Angst hatte. Wer in jenen Tagen des Anti-G8-Protests in Genua auf der Straße gewesen sei, habe schließlich die Polizeibrutalität gesehen, erklärt die 30-jährige Münchnerin.
Mit erhobenen Händen Polizei erwartet
Am späten Abend des 21. Juli 2001 war Miriam zum Zähneputzen und Schreiben von E-Mails in die Schule »A. Diaz« gegangen. Dort geriet sie in eine Polizeiaktion von seltener Brutalität. Sie saß damals gerade an einem der öffentlichen Internetplätze, erinnert sich die Doktorandin nun vor Gericht. Dann sei ihr Freund Tobias H. gekommen und habe sie gewarnt, dass Polizeieinheiten versuchten, in das auch als Schlafstätte genutzte Gebäude einzudringen. Schnell habe sich Aufregung in der Schule ausgebreitet. Miriam und Tobias suchten nach einem Fluchtweg aus dem Gebäude. Sie fanden jedoch nur ein geöffnetes Toilettenfenster im ersten Stock. Das führte auf ein Baugerüst - zu gefährlich. Sie hatten Angst, Polizisten könnten sie hinunterstoßen. Die Furcht war nicht unbegründet: Am Vortag war der Genueser Demonstrant Carlo Giuliani von der Polizei erschossen worden. Also hockten sich die jungen G8-Kritiker gemeinsam mit anderen im Türbereich der Toilette hin, erzählt Miriam. Mit erhobenen Händen warteten sie auf die Ankunft der Polizisten
Seit drei Monaten hört das Gericht unter dem Vorsitzenden Gabrio Barone in der »Aula Bunker« die Erinnerungen der 93 G8-Gegner aus der Diaz-Schule. Groß wie eine Sporthalle, in kaltem schwarz-weißen Marmor gehalten und verborgen im Keller des Genueser Gerichts, ist die »Aula Bunker« Schauplatz des Prozesses gegen 29 teilweise sehr hochrangige Polizisten. Sie müssen sich wegen des Überfalls auf die Diaz-Schule verantworten. An diesem Tag Anfang März ist jedoch keiner von ihnen vor Gericht erschienen.
»Aus dem unteren Stockwerk drangen Schreie und großer Krach nach oben«, setzt Miriam ihre Aussage fort. Plötzlich tauchte der erste Polizist, vermummt, behelmt und mit Schlagstock bewaffnet, vor ihren Augen auf. Während den jungen Leuten befohlen wurde, den Kopf auf den Boden zu senken, hörten sie dumpfe Schläge und Schreie derer, die sich im Flur gegenüber dem Toilettenraum hingesetzt hatten. Die Polizisten schrien »Bastardi« und »Black bloc«. Ein Polizist versetzte auch dem jungen Mann neben ihr einen Schlag auf den Kopf. Minuten später sah sie, wie ein anderer Uniformierter neben einem reglos in einer Blutlache liegenden Körper stand und »basta« rief. Die Polizei hatte behauptet, sie sei in der Schule auf massiven Widerstand gestoßen. Doch Miriam ist sicher, dass dies unwahr ist.
Enrico Zucca, ermittelnder Staatsanwalt im Diaz-Prozess, hat in den vergangen fünf Jahren alle Details der Polizeiaktion in der Schule zusammengetragen. In einem rund 260-seitigen Bericht fasste er die für die italienische Polizei skandalösen Ergebnisse zusammen. Im Jahre 2002 reiste Zucca durch verschiedene europäische Länder, um sich die Berichte der Betroffenen anzuhören. Das war nicht einfach, denn die Polizei hatte zahlreiche Anzeigen gegen Demonstrantinnen und Demonstranten erstattet, so dass diese in den Verhören ebenso Beschuldigte wie Zeugen und Kläger waren.
Vorwürfe gegen Aktivisten entkräftet
Erst nachdem alle Vorwürfe gegen die Aktivisten widerlegt und sämtliche Betroffene aus der Schule Anfang 2004 freigesprochen waren, wurden die Ermittlungen leichter. Aber die jetzigen Zeugenaussagen stellen eine große Belastung für Tobias dar. Die Bilder von Peinigern und Gepeinigten werden wieder wach. Schon nach den Gesprächen mit den Anwälten am Vorabend fällt es dem 30-Jährigen schwer, ruhig zu schlafen. Bis heute hat Tobias Albträume. Fast fünf Jahre nach den Ereignissen, muss der Staatsanwalt mit viel Nachdruck darum bitten, dass sich Tobias vor Gericht genau an den Ablauf des Polizeiüberfalls erinnert. Er sei im Hof der Schule gewesen, erzählt Tobias, und habe die bewaffneten Polizisten in Schutzkleidung die Straße zur Schule herunterlaufen sehen. Als etwa zwei Stunden zuvor zwei Polizeiwagen vor der Schule entlang fuhren, hatte er außer ein paar »Assassini« (Mörder)-Rufen aus der Schule wegen des Todes von Carlo Giuliani nichts Besonderes bemerkt. Staatsanwalt Zucca konfrontiert Tobias mit den Angaben der Polizei, es habe einen gewalttätigen Angriff auf die Fahrzeuge gegeben. Nein, nein, ist sich Tobias sicher, das war nicht der Fall. Es habe keine Attacke gegeben. Zahlreiche andere Zeugen haben das in vorhergehenden Verhandlungen bestätigt. Angegriffen, da gleichen sich alle Aussagen, hat an diesem Abend allein die Polizei.
Hiebe mit dem Schlagstock
Als Tobias zusammen mit anderen Demonstranten die Treppe vom ersten Stock des Schulgebäudes ins Erdgeschoss hinunter geführt wurde, stand ein Polizist in Zivil auf dem Treppenabsatz und verpasste allen einen Hieb mit seinem Schlagstock. Tobias wurde am Kopf getroffen. Als Staatsanwalt Zucca ihm Fotos von Polizisten zeigt, erkennt er einen Mann sofort wieder. Es ist Francesco Gratteri, der damalige Chef der italienischen Bereitschaftspolizei SCO, heute Leiter der Anti-Terror-Polizei, der die Aktion in der Schule persönlich begleitete. Tobias hatte ihn in der Turnhalle des Gebäudes gemeinsam mit weiteren zivil gekleideten Polizisten gesehen. Es war ein »Bild des Grauens«, erinnert sich der Aktivist, mit blutverschmierten Böden und Wänden, an denen verängstigte und wimmernde Opfer des Überfalls lehnten. Auf die Frage, ob ihm seine Festnahme offiziell mitgeteilt wurde und er über seine Rechte aufgeklärt worden sei, antwortet Tobias mit einem klaren Nein. Sie seien über gar nichts informiert worden. Auch diese Antwort ist für das Gericht nicht neu. Nach gut drei Stunden findet dieser Verhandlungstag ausnahmsweise ein frühes Ende. Die Anwälte des Genova Legal Forums (GLF), die ehemalige Demonstranten in allen anstehenden Verfahren zum G8-Gipfel vertreten, freuen sich. Sie arbeiten ständig an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Bei vier bis fünf Gerichtstagen pro Woche in mehreren Verfahren sind sie fast täglich vor Gericht. Manchmal verschiebe sich die Vor- und Nachbereitung der Prozesstage bis in die späten Abendstunden, berichtet die Anwaltshelferin Laura. Neben dem Verfahren zur Diaz-Schule seien sie auch mit dem Prozess wegen der Übergriffe gegen Gefangene in der Polizeikaserne »Bolzaneto« beschäftigt. Dazu komme ein Verfahren gegen 25 Italiener, denen »Verwüstung und Plünderung« vorgeworfen wird. Ihnen drohen 8 bis 15 Jahre Haft.
Aussage in weiteren Prozessen geplant
Miriam und Tobias werden Anfang Oktober erneut nach Genua reisen, um im »Bolzaneto«-Verfahren gegen 45 Polizisten, Ärzte und medizinische Helfer auszusagen. Nach ihrer Gefangennahme waren die beiden wie die meisten anderen Festgenommenen in die Polizeikaserne gebracht worden. Sie befürchten, der »Bolzaneto«-Prozess könnte ohne Urteil beendet werden, weil die dort angeklagten Straftaten bereits in etwa zweieinhalb Jahren verjährt sein werden. »Aber wir bleiben auf jeden Fall dran«, versichert Miriam. »Es geht uns auch um die 25 Italiener, die derzeit mit der gleichen Anklage, wie sie auch gegen uns erhoben wurde, vor Gericht stehen.« Ihr ist es wichtig klarzustellen, dass die Gewalt in Genua von der Polizei ausging. Entpolitisiert hätten die Erlebnisse in Genua sie keinesfalls. Das Gegenteil sei der Fall, sagt Tobias. Nach den Ereignissen in der italienischen Hafenstadt habe er sich in einer politischen Gruppe organisiert und zum Beispiel gegen die NATO-Sicherheitskonferenz protestiert. Zudem versuche er auch während seines Volontariats beim Bayerischen Rundfunk, Kritik an den medialen und gesellschaftlichen Verhältnissen zu üben. Miriams Ablehnung der G8-Politik ist ebenfalls so scharf wie zuvor. Die Sozialwissenschaftlerin schreibt ihre Doktorarbeit zum Thema neoliberale Privatisierungspolitik. Zum Abschluss ihres Besuchs wollen die beiden noch einen touristischen Blick auf die Stadt Genua werfen. Mit einer der Spezialbahnen fahren sie in die Berge über der Altstadt. Dort beginnt ein Weg zu den mittelalterlichen Befestigungsanlagen. »Man kann sich vorstellen, wie es Leuten, die damals versuchten, etwas vom Reichtum dieser Stadt abzubekommen, in den Festungsburgen hier oben ergangen ist«, sagt Tobias. Vielleicht schwingt da auch Erinnerung an das selbst Erlebte mit: Zum G8-Gipfel im Juli 2001 war die Altstadt Genuas mit einem vier Meter hohen Zaun und einem Wall aus Containern abgesperrt worden.