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G8-Gipfel vor GerichtJuristisches Verwirrspiel um die Repression in Genua 2001 von Anneke Halbroth mit Supporto Legale Genua Seit dem G8-Gipfel in Genua im Sommer 2001 sind fast fünf Jahre vergangen, und geblieben sind nicht nur die Bilder von kraftvollen Protesten, sondern auch die Erinnerungen an einen Gipfel, der viel Polizeigewalt und Repression mit sich brachte. Die öffentliche Aufregung hat sich gelegt, in Italien und anderswo; und die Vorgänge der Tage im Juli beschäftigen zur Zeit vor allem die Justiz. Derzeit werden vor dem Genueser Gericht mehrere Prozesse verhandelt. Davon sind in drei Prozessen Polizisten, aber auch Ärzte und Pflegepersonal angeklagt; in einem vierten Prozess stehen 25 italienische AktivistInnen vor Gericht. - Das Perugini-Verfahren gegen sieben Polizisten ist wegen seiner eindeutigen Beweislage fast abgeschlossen. Der Perugini-Prozess Die DIGOS ist die politische Abteilung der Polizei, die sowohl strafrechtliche Ermittlungen führen, als auch Prävention betreiben soll. Ihr Tätigkeitsfeld reicht von den von Hooligans über Bewegungen der Linken und Rechtsextremismus bis zu islamistischem und anderem Terrorismus. Sieben Polizisten dieser Einheit stehen im Perugini-Verfahren vor Gericht. Sie haben am Nachmittag des 21. Juli 2001 eine Gruppe junger Leute angegriffen und misshandelt, die am Rande der Hauptdemonstration saßen. Sie schlugen ohne jede Vorwarnung los, weil diese sie angeschrieen hatten. Die Video-Aufnahmen von diesem Vorfall sind so eindeutig, dass die Verteidigung dem Hauptzeugen nicht eine einzige Frage während seiner Aussage stellte. Gezeigt wurde bei dieser Gelegenheit eine Videoaufnahme, auf der ein sehr junger Mann, vielleicht 15 Jahre alt, zu sehen ist, der von Polizisten verprügelt wird. Einige halten ihn fest, einer tritt ihm ins Gesicht. Der junge Mann blickt dann in die Kamera, und es ist deutlich zu sehen, dass seine Kiefer- und Augenknochen gebrochen sind. In diesem Prozess, der wesentlich zügiger vorangetrieben wurde als die anderen, hat ein Polizist aus Mailand (Giuseppe De Rosa) seine Schuld bereits eingestanden und wurde zu einem Jahr und acht Monaten Haft sowie 10.000 Euro Geldstrafe verurteilt. Die Urteile für die anderen sechs werden in Kürze erwartet. Unter ihnen sind auch je ein Angeklagter im Diaz- und im Bolzaneto-Prozess. Der Bolzaneto-Prozess Die Bolzaneto-Kaserne ist normalerweise eine Kaserne der Carabinieri, die im strikten Sinne keine eigene Form der italienischen Polizei sind, sondern neben Marine, Luft- und Bodenstreitkräften die 4. Armee des italienischen Militärs bilden. Die tatsächlichen Aufgaben der Carabinieri unterscheiden sich allerdings von denen der Polizei (Polizia di Stato) faktisch nicht. Für die vielen Verletzten unter den etwa 300 Menschen, die während und nach dem G8-Gipfel in der temporären Gefangenensammelstelle Bolzaneto interniert waren, bedeutete dies, mit Militärärzten, -pflegerInnen und -wachpersonal konfrontiert zu sein. Nach einigen Tagen wurden alle nach der Anhörung durch den Haftrichter in verschiedene Gefängnisse verlegt. Der Aufenthalt in Bolzaneto wurde von vielen, die dort waren, als traumatisch beschrieben. Fast alle sind massiv misshandelt und psychisch unter Druck gesetzt worden. Dazu gehörten teilweise bis zu 18 Stunden Stehenmüssen, Schlafentzug, Verweigerung des Toilettenbesuchs, Toilettenbesuch unter direkter Aufsicht, Spießrutenlauf mit erheblicher Gewaltanwendung, permanente Androhung weiterer physischer Gewalt, Androhung sexueller Gewalt, Erniedrigung insbesondere in Verbindung mit dem Zwang, sich ausziehen zu müssen, das Anhören und Singenmüssen faschistischer Lieder, Mussolini-Bilder an der Wänden. Auch die teils schwer Verletzten, die direkt aus dem Krankenhaus in die Kaserne transportiert wurden, wurden kaum oder gar nicht medizinisch versorgt und waren denselben Misshandlungen ausgesetzt. Im Prozess sind insgesamt 45 Personen angeklagt, die in Bolzaneto an den Misshandlungen beteiligt waren oder sie zumindest nicht verhindert haben: PolizistInnen (Carabinieri und DIGOS), Aufseher, Ärzte, darunter der oberste Arzt der Kaserne, und das medizinische Pflegepersonal. Kaum jemand geht davon aus, dass dieses Verfahren überhaupt zu Ende geführt wird. Es gilt eine Verjährungsfrist von nur 7,5 Jahren und dabei spielt bizarrerweise überhaupt keine Rolle, dass das Verfahren bereits läuft. Das bedeutet, dass es innerhalb der nächsten zweieinhalb Jahre abgeschlossen werden müsste, und das ist angesichts der großen Zahl von Angeklagten und Hunderten von ZeugInnen vollkommen unwahrscheinlich. Italien hat die UNO-Konvention gegen Folter nicht ratifiziert, und damit ist die Bandbreite der im Prozess möglichen Anklagen stark eingeschränkt. Drei Tage lang waren diejenigen, die in Genua verhaftet worden waren, ohne Kontakt zur Außenwelt, zu AnwältInnen oder ihren Familien, vollkommener Willkür ausgesetzt. Die Vorgänge in der Kaserne sind allgemein bekannt. Vieles von dem, was die ZeugInnen Woche für Woche aussagen, dürfte jedoch unter den Tisch des Strafrechts fallen. Verhandelt werden Körperverletzungen und Verletzung der Amtspflicht, aber nicht die psychischen Misshandlungen, der Schlafentzug, das stundenlange Stehen und etliches andere, das als systematische körperliche Misshandlung im Amt zweifellos als Folter bezeichnet werden muss. Der Prozess wird dadurch erschwert, dass im Unterschied zu allen anderen Verfahren kein Video- oder Fotomaterial existiert und die ZeugInnen damit bei der Identifikation ihrer Peiniger ausschließlich auf ihr Gedächtnis angewiesen sind. Der Diaz-Prozess Der ‚Diaz-Prozess‘ ist das Verfahren, das den nächtlichen Übergriff mehrerer Polizeieinheiten auf zwei gegenüberliegende Schulen, die gemeinsam ‚Diaz-Schule‘ heißen, juristisch zumindest teilweise aufarbeitet. In der einen, der Pertini-Schule, wurden in der Nacht vom 21. auf den 22. Juli 2001 nach einem beispiellosen Gewaltexzess der Polizei 93 Menschen festgenommen – alle, die sich in der Schule aufhielten und denen es nicht gelungen war, zu flüchten. Fast alle waren verletzt, 63 mussten im Krankenhaus behandelt werden. Mehrere waren lebensgefährlich verletzt, einige lagen im Koma, viele leiden bis heute unter den physischen und psychischen Folgen des Übergriffs. Die Pertini-Schule war vom Genua Sozialforum (GSF) als Übernachtungsort für die Dauer des G8-Gipfels angemietet worden; tagsüber fanden hier Versammlungen und bspw. Anti-Gewalt-Trainings statt. In der gegenüberliegenden Pascoli-Schule waren die Büros des Sozialforums, der AnwältInnen, der SanitäterInnen und das unabhängige Medienzentrum Indymedia untergebracht. Auch diese Schule stürmte die Polizei. Hier wurde aber mit wenigen Ausnahmen niemand geschlagen. Allerdings mussten sich alle Anwesenden teils auf den Bauch legen, auf den Boden setzen oder an die Wand stellen. Es war ihnen etwa eine Stunde lang nicht erlaubt zu sprechen oder zu telefonieren. Die Möglichkeit des Einsatzes derselben brutalen Gewalt wie sie gegenüber angewendet worden war, schwebte in der Luft, und die Schreie waren deutlich zu hören. Für alle, die in der Schule waren, gilt, dass sie rechtswidrig und ohne Angabe von Gründen festgehalten wurden. Insbesondere Video-Aufnahmen wurden entwendet und die Computer der AnwältInnen des Genua Legal Forum zerstört. Vorwand für den Einsatz war ein angeblicher Angriff auf einen Polizei-PKW, der am frühen Abend durch die sehr enge Strasse zwischen den beiden Schulen gefahren war. Dabei kam es zu Rufen und möglicherweise zum Wurf einer Flasche, die allerdings keinen Schaden anrichtete. Die Polizei beschreibt den Vorfall als massiven und bedrohlichen Angriff auf die im Wagen sitzenden Beamten. Es sei erforderlich gewesen, den sich in der Diaz-(Pertini-)Schule aufhaltenden ‚Black Bloc‘ dingfest zu machen. Diese Begründung löste die spontane Planung einer Operation aus, an der verschiedene Einheiten der Carabinieri, der DIGOS und der Bereitschaftspolizeien beteiligt waren. Auf einer Pressekonferenz am Tag darauf präsentierte die Polizei zahlreiche Waffen, darunter zwei Molotov-Cocktails, als die angeblichen Ergebnisse ihrer Razzia gegen den „Schwarzen Block“. Die Polizei-Einheiten, die die „Razzia“ durchführten, seien massiv angegriffen worden, als sie sich der Schule näherten. Ein Polizist sei sogar mit einem Messer attackiert worden. Die polizeiliche Rechtfertigung von damals ist heute als Lügenkonstrukt entlarvt: Die Waffen? Waren Zeltstangen, Hausmeisterwerkzeug und Baumaterial, denn die Schule war eingerüstet und wurde gerade saniert. Der Angriff auf die Polizei? Hat, dokumentiert durch Video-Aufnahmen, nie stattgefunden. Im Gegenteil haben die wenigen, die überhaupt wach waren, verzweifelt versucht, andere zu wecken und nach hinten aus der Schule zu flüchten. Die Molotow-Cocktails? Sind von der Polizei selbst mitgebracht worden. (Der entscheidende Zeuge, der als einziger bei seiner Aussage blieb, hatte sechs Tage vor Prozessbeginn einen schweren Motorradunfall.) Der Messerangriff, belegt durch Stiche in einer Uniformjacke? Hat auf einem Polizei-Tisch stattgefunden, gegen die Jacke, allerdings ohne den Beamten darin. Wahrscheinlich handelt es sich bei Massimo Nucera, dem angeblich angegriffenen Beamten, um den einzigen unter den in diesem Verfahren vor Gericht stehenden Polizisten, der vermutlich selbst zu den Prügelnden gehörte. Allerdings ist er nicht der Körperverletzung angeklagt, denn die ist ihm nicht individuell nachzuweisen, sondern – wie die anderen 28 Polizisten – der Beihilfe zur Körperverletzung. Die weiteren Vorwürfe lauten: Verleumdung und unrechtmäßige Anklage, Fälschung von Beweisen sowie Nicht-Verhinderung von Straftaten. Unter den Angeklagten finden sich auch die Polizeiführer, denen nachgewiesen werden konnte, dass sie an der Planung des Einsatzes beteiligt waren und/oder deren Anwesenheit vor Ort dokumentiert ist: Alle im Diaz-Prozess angeklagten Beamten sind inzwischen in Positionen befördert worden, die ranghöher als ihre vorherigen sind, aber auch weniger Aufsehen erregen. Bis heute wurde niemand vom Dienst suspendiert. Die prügelnden Polizisten selbst sind jedoch immer noch nicht identifiziert. Sie waren maskiert und trugen Uniform, und ihre Chefs können sich offenbar leisten, darüber zu schweigen, wer sie sind. Damit ist es nicht möglich, die eigentlich relevanten Anklagen wegen Körperverletzung und versuchtem Totschlag zu verhandeln, denn die müssen konkret handelnden Personen zugeordnet werden können. Verhandelt wird ein Gewirr aus Falschaussagen und Verantwortlichkeiten: Alle wollen die Schule als letzte betreten haben, niemand war aktiv daran beteiligt, den Überfall zu planen und umzusetzen, obwohl doch nachgewiesen ist, dass der Überfall auf die Diaz-Schule von vielen gemeinsam ausgedacht war, um nach den Demonstrationen pressewirksam ein „Erfolgserlebnis“ präsentieren zu können. Der Vize der italienischen Antiterror-Einheiten wurde mit den Molotow-Cocktails in der Hand gefilmt – er behält die Namen der beteiligten Schläger für sich und bleibt im Amt. Bis zu Beginn dieses Jahres schien der Prozess noch durch eine Reform der Verjährungsfristen gefährdet, die nun zwar verabschiedet ist, aber die schon laufenden Verfahren nicht mehr betreffen wird. So gilt im Diaz-Schul-Prozess (anders als im Bolzaneto-Verfahren) mehrheitlich eine Verjährungsfrist von 15 Jahren – genügend Zeit also, um das Verfahren zuende zu führen. Seit Januar sagen in Genua 46 in Deutschland lebende ZeugInnen aus, die in der Schule waren oder den Überfall von gegenüber beobachtet haben. Der 25er Prozess Seit März 2004 findet der erste große Prozess gegen 25 italienische AktivistInnen statt, die an den Demonstrationen am 20. und 21. Juli 2001 in Genua beteiligt waren. Sie sind gemeinsam sowohl der Bildung einer „Kriminellen Vereinigung“ als auch der „Verwüstung und Plünderung“ angeklagt. Dabei spielt keine Rolle, dass das, was ihnen vorgeworfen wird, zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten und an unterschiedlichen Orten stattgefunden hat. Bei einigen Angeklagten besteht der einzige Vorwurf darin, dass sie sich in der Nähe der Demonstration aufgehalten haben. Für die (schon der Definition nach gemeinschaftlich begangene) „Verwüstung und Plünderung“ ist lediglich relevant, dass die Angeklagten psychisch beteiligt waren, d.h. anwesend und grundsätzlich mit der Tat einverstanden. Der zugrunde liegende Paragraf war zuvor ausschließlich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg angewendet worden, als in einer rechtlich unklaren Situation in verschiedenen Städten Italiens bürgerkriegsartige Szenarien abgewendet werden sollten. Entsprechend hoch sind die vorgesehenen Strafen: 8-15 Jahre Haft. Inzwischen scheint die italienische Justiz Geschmack an diesem Instrument gefunden zu haben: In einem Verfahren gegen Fussballhooligans kam es wegen des gleichen Straftatbestandes zu einer Verurteilung. Noch nicht formal eröffnet sind die Hauptverfahren gegen AktivistInnen in Turin und gegen 25 im März dieses Jahres festgenommene Beteiligte an einer Demonstration, die sich gegen einen Aufmarsch von Faschisten in Mailand richtete. Im Genueser 25er Verfahren bemüht sich die Verteidigung zur Zeit nachzuweisen, dass die Gewalttätigkeit der Demonstrationen am Freitag und Samstag des G8-Gipfels vom Verhalten der Polizei ausgelöst wurde, und die DemonstrantInnen von ihrem legitimen Recht auf Notwehr Gebrauch gemacht haben. Dazu hat die Verteidigung in aufwändiger Arbeit im Prozess eingebrachtes Beweismaterial neu zusammengesetzt: Videoaufnahmen der Polizei, die teilweise mit an den Kameras angebrachten Helmen gefilmt worden waren, wurden auf eine Weise mit Videomaterial von AktivistInnen, Polizeifunkmitschnitten etc. in Verbindung gebracht, dass sie einen vernünftigen Zusammenhang ergaben. Inzwischen konnte so belegt werden, dass mindestens eine Einheit der Polizei vollkommen entgegen ihren Anweisungen die angemeldete große Demonstration der Tute Bianche unrechtmäßig aufgehalten und angegriffen hat. Dies fand statt an einer Stelle, die den DemonstrantInnen keine Möglichkeit bot, auszuweichen. Die entsprechende Einheit gehört zu den speziell für das Eindämmen von Ausschreitungen bei Demonstrationen ausgebildeten CCIR (Compagnie Di Contenimento e Intervento Risolutivo) und sollte kurz vor Beginn der Auseinandersetzungen (ohne überhaupt direkt mit der Demonstrationsspitze in Berührung zu kommen) an eine andere Stelle verlegt werden. Der Ausgang des Prozesses gegen die 25 ist gegenwärtig schwer einzuschätzen, es ist aber anzunehmen, dass die Angeklagten mehrjährige Haftstrafen erwarten. Viele andere DemonstrantInnen aus Italien und anderen Ländern, die während und nach den Demonstrationen festgenommen wurden, leben seit Jahren mit der Unsicherheit, dass eventuell doch noch ein Gerichtsverfahren gegen sie eröffnet wird, ohne auch nur zu wissen, wessen sie angeklagt werden. Keine Aufklärung vor Gericht Was es bis heute in Italien (wie auch anderswo) überhaupt nicht gibt, ist eine Aufarbeitung dessen, was in den Tagen des Gipfels von Genua tatsächlich passiert ist, wer daran beteiligt war und wie. Bereits jetzt ist deutlich, dass die derzeit stattfindenden Prozesse eine derart umfassende Aufklärung nicht leisten werden. Vorläufig ist es alleinige Aufgabe der wenigen Unermüdlichen des spendenfinanzierten Rechtshilfe-Büros Segreteria Legale, die wöchentlichen Verhandlungen zu beobachten und zu dokumentieren. Es bleibt die vage Hoffnung, dass sich die Mitte-Links-Regierung nach Spendenkonto: www.supportolegale.net [1] Die Segreteria Legale ist ein kleines, mit Spenden finanziertes Büro von AktivistInnen, hartnäckigen VerfolgerInnen der Rechtsbrüche von Genua, die den AnwältInnen technisch und inhaltlich zuarbeiten. |
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